Mittwoch, 11. April 2012

Corpo celeste

Es gehört Mut dazu, sich als italienische Jungregisseurin gleich in der ersten grossen Produktion kritisch mit der katholischen Kirche und ihrem Einfluss im modernen Italien auseinanderzusetzen. Alice Rohrwacher aber, die Schwester der Schauspielerin Alba Rohrwacher (Io sono l'amore), stellte sich der Herausforderung, liefert aber mit ihrem Debüt einen Film ab, der sich bestens als Beispiel für das polare Gegenteil "mutigen Filmemachens" eignet. Corpo celeste ist ein unsicheres, zimperliches Coming-of-Age-Drama ohne den nötigen Fokus.

Die 13-jährige Marta (Yle Vianello) stammt aus Kalabrien, verbrachte aber zehn Jahre ihres Lebens in der Schweiz und hat nur wenig Bezug zu ihrer alten Heimat. In dieser ihr fremen Welt, wo Bauruinen, ein trockenes Flussbett und ein halbfertiger Autobahnzubringer die Landschaft bestimmen, muss sie sich nun, nachdem sie mit Mutter und Schwester zurückgezogen ist, einleben. So fühlt sie sich nicht nur in der Schule als Aussenseiterin, sondern auch im Firmunterricht, der ihr aufgezwungen wird. Dieser wird von Santa (Pasqualina Scuncia) geleitet, die erhebliche Schwierigkeiten hat, die desinteressierten Jugendlichen für die Religion zu begeistern. Doch während ihre Kollegen wenigstens ein gewisses Traditionsbewusstsein haben – und sei es der Spruch "Man macht das in unserer Familie so" –, fehlt Marta jegliche Bindung zur katholischen Tradition und sie beginnt deshalb, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen.

Das Ziel, das Alice Rohrwacher in Corpo celeste verfolgte, lässt sich anhand einer kurzen Szene, vielleicht sogar der stärksten des Films, nachvollziehen. Santa leiert Marta das katholische Glaubensbekenntnis herunter, dessen erster Teil auf die Frage "Glaubst du an Gott, unseren Erlöser?" hinausläuft. Nach kurzem Zögern antwortet der Teenager: "Credo". Ich glaube. Was folgt, ist heikler: "Glaubst du an die heilsbringende katholische Kirche?" Marta schweigt, Santa platzt der Kragen. "Credo!", ruft die Frau und schmettert die symbolische Ohrfeige eine Spur zu beherzt hinterher. Das Dilemma, das sich hier abzeichnet, ist schon seit Jahrhunderten eine der eklatantesten Schwächen der grössten christlichen Konfession: Wer steht im Mittelpunkt, Gott oder der Klerus? Und wo bleibt das Weltliche dabei? An dieser Schnittstelle zwischen Geistlichem und Weltlichem bewegt sich Rohrwacher. Sie zeigt in oftmals körnigen Handkamerabildern, wie der sehr an Lokalpolitik interessierte Pfarrer Don Mario, subtil gespielt von Salvatore Cantalupo, obwohl tief gläubig, trotzdem nach einer Beförderung in eine bessere Gemeinde giert; wie Santa versucht, das neue Jahrtausend in ihrem Unterricht mittels PC-Quiz und Popsongs Einzug halten zu lassen, ihre Schüler damit aber noch weiter von der Materie distanziert.

Verloren im Mezzogiorno: Die 13-jährige Marta (Yle Vianello) in ihrer neuen Heimat.
Dass dabei keine tiefer schürfende Kritik geäussert wird, dass die übergeordneten Problematiken von Katholizismus und organisierter Religion im Allgemeinen grösstenteils ignoriert werden, lässt sich dem Film nachsehen, da er sonst leicht hätte ins Dogmatische abdriften können. Störender wirkt Rohrwachers Art, die Thematik kritisch zu beleuchten. Auch wenn man die Frage nach der Existenz Gottes ausklammert, böte die Kirche, besonders die katholische, genügend Angriffsfläche für ein provokantes Drama zum tiefer werdenden Graben zwischen soziokultureller Realität und traditionsorientierter Religion. Corpo celeste mag Motive und Methoden von Zeitgenossen wie Don Mario hinterfragen, trägt damit aber Eulen nach Athen; die korrupten Auswüchse und der fehlende Bezug der Geistlichkeit zum Volk, speziell in Italien, sind wohlbekannte Phänomene, die schon in vielerlei Form breitgetreten wurden. Rohrwacher trägt nichts Neues zur Diskussion bei; ihre Provokation erschöpft sich in vagem Formalismus und zaghafter Symbolik – so etwa das bedeutungsschwangere Bild des im Meer treibenden klassischen Kruzifix, welches das Neonkreuz in Marios Kirche hätte ersetzen sollen. Eine schöne Komposition; aber ein anregender Gesprächsansatz sieht anders aus.

Und auch wenn man die religiöse Seite des Films aus der Gleichung nimmt, vermag Corpo celeste nicht recht zu überzeugen. Nicht zuletzt dank Yle Vianellos beachtlicher Schauspielleistung gelingt es ihm zwar, Martas bittersüsses Herantasten an emotionale Unabhängigkeit sowie ihre Verlorenheit im verarmten italienischen Süden zu illustrieren – auch wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Daniele Luchettis La nostra vita weitaus besser, weil weniger schwarz-weiss, dargestellt wurden. Dem Ganzen fehlen eine Richtung und ein dramaturgisches Zentrum. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers gilt abwechselnd Marta und Don Mario. Dahinter steckt wohl die Absicht, ausgewogen zu sein, beiden Seiten des Konflikts ein Gesicht zu geben, aber leider wird dabei auf keine richtig eingegangen. Vielmehr resultiert daraus eine nur oberflächliche Beziehung zwischen Charakteren und Kinogägern; beide Figuren, Marta etwas weniger, Mario etwas mehr, bleiben einem fremd.

Blinder Glaube: Santa (Pasqualina Scuncia) versucht, die Teenager für die Religion zu begeistern.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass Corpo celeste, zumindest auf dem Papier, ein ambitiöses Projekt ist. Hätte Rohrwacher mehr Mut zum Risiko bewiesen und sich weniger von der Angst, religiöse Gefühle zu verletzen, leiten lassen, hätte ihr erster Film ein spannender und wertvoller Beitrag zur anhaltenden Diskussion um den in der Krise steckenden Katholizismus sein können. Am erforderlichen cineastischen Flair sowie an hochkarätigem Schauspielermaterial hätte es nicht gefehlt. So aber bleibt das Gefühl einer verpassten Chance.

★★

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